Lexikon der Fernerkundung

Internationale Charta für Weltraum und Naturkatastrophen (International Charter Space and Major Disasters)

Bezeichnung für ein internationales Vertragswerk und die mit diesem Vertrag gegründete internationale Organisation mit der Aufgabe, im Falle von Naturkatastrophen oder durch den Menschen verursachten Katastrophen ein vereinheitlichtes System anzubieten zur Erfassung und Bereitstellung von nützlichen Satellitendaten für befugte Benutzer.

Eingesetzt werden Erdbeobachtungssatelliten (34 im Jahr 2019) der Vertragspartner. Die große Zahl sehr unterschiedlicher Satelliten erhöht die Chance, ohne großen Zeitverzug hilfreiche Bilder von jedem neuen Katastrophengebiet liefern zu können. Zu den befugten Benutzern zählen Katastrophenschutzorganisationen, Rettungsorganisationen, Sicherheitsorgane und Verteidigungskräfte des Heimatlandes der Chartamitglieder sowie Weltraumorganisationen und Betreiber der Weltraumsysteme.

Aktivierung der Charta

Zur Aktivierung der Charta wurde ein weltweit erreichbarer Erstkontakt eingerichtet, der rund um die Uhr telefonisch und per E-Mail erreichbar ist. Über diesen Erstkontakt können Katastrophenschutzbehörden und Hilfsorganisationen weltweit um Unterstützung bei der Charta anfragen. Sobald die Charta aktiviert wurde, wird geprüft, welche Erdbeobachtungssatelliten für den aktuellen Krisenfall geeignet sind und welche Satelliten als nächste die erforderlichen Daten von der betroffenen Region aufnehmen können. Die jeweiligen Satellitenbetreiber werden unmittelbar kontaktiert und die entsprechenden Satellitenaufnahmen in Auftrag gegeben. Die Charta-Mitglieder stellen sicher, dass diese Neuaufnahmen schnellstmöglich erfolgen. Zusätzlich liefern sie Referenzaufnahmen für die betroffene Region aus ihren jeweiligen Datenarchiven. Die gesamte Aktivierung wird zentral durch einen Charta-Projektmanager geleitet. Hier fließen alle eingehenden Daten und Informationen zusammen. Zudem hält der Projektmanager engen Kontakt mit dem Nutzer und stellt sicher, dass aus den Satellitendaten aussagekräftige Karten und Informationsprodukte erstellt und an den Nutzer ausgeliefert werden. (siehe Activating the Charter)

Das Beispiel Kīlauea 2018

Der Vulkan Kīlauea auf der US-Insel Hawaii erlebte Tausende von kleinen Erdbeben zur gleichen Zeit, als sich die vulkanischen Ereignisse abspielten. Es war der 3. Mai 2018, als der Staat Hawaii aufgrund der seit Ende April andauernden vulkanischen Aktivität, die zu Rissen und Lavaspalten geführt hatte, und die sich auf die Lower East Rift Zone in der Nähe der Gemeinde Leilani Estates auf Hawaii auswirkten, den Katastrophenfall ausrief. Am folgenden Tag ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 6,9 und am Ende des Tages gab es sechs Lavaspalten, von denen jede mehrere hundert Meter lang war. In den nächsten 2-3 Tagen öffneten sich weitere Risse und Spalten innerhalb und in der Nähe von Wohngebieten. Die Aktivität an den Spalten war unberechenbar und begann und endete mit bis zu 100 Meter hohen Lavafontänen und Lavaströmen, die sich auf 36.000 Quadratmeter ausbreiteten.

Ein Lavastrom bewegt sich eine lokale StraأŸe in der Gemeinde Leilani Estates hinunter (6. Mai 2018) Kīlauea

Photo and Video Chronology - May 6, 2018

Ein Lavastrom bewegt sich eine lokale Straße in der Gemeinde Leilani Estates hinunter (6. Mai 2018)

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Quelle: USGS

Am Sonntag, den 6. Mai, gab es eine Diskussion innerhalb des US Geological Survey (USGS) Volcano Hazards Program über die Aktivierung der International Charter für die Aktivität am Kīlauea. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Wunsch nach Informationen über Deformationen (Risse, Löcher, Strömungen und Einstürze) und der Bedarf an Synthetic Aperture Radar-Satellitendaten war von vorrangigem Interesse. SAR wäre für den Einsatz im dichten Dschungel von Hawaii aufgrund seiner Fähigkeit, die Vegetationsschicht zu durchdringen, von entscheidender Bedeutung, aber auch hochauflösende optische Daten würden für Schadensbewertungen benötigt.

Bis zum nächsten Morgen waren 26 Häuser und mehrere Bauwerke durch Lavaströme zerstört worden und mehr als 1.700 Menschen waren evakuiert worden. Julie Griswold, eine Vulkanologin des USGS, kontaktierte den US Authorized User und die Charta wurde am 7. Mai aktiviert. Sie beantragte nicht nur die Aktivierung, sondern bot auch ihr Fachwissen an, um als Projektmanagerin (PM) für die Aktivierung zu fungieren. Als erfahrene PM war Julie in der Lage, mehrere Elemente der Charter für die Bewertung der Katastrophe zu nutzen. SAR-Daten von Sentinel-1B, RADARSAT-2, TerraSAR-X, KOMPSAT-5 und ALOS-2 wurden verwendet, um die Kartierung der Aktivitäten im Inneren des Kīlauea-Vulkans und des Halema'uma'u-Kraters, die Bewertung von Schäden an Eigentum und Infrastruktur sowie aktive Spalten/Lavaströme zu unterstützen (siehe Bild unten).

Dieses RADARSAT-2-Produkt identifiziert eine Linie von Rissen (rote Punkte) und kartiert Lavaströme von den Leilani Estates und Lanipuna Gardens in Richtung Meer Vulkan Kilauea und die Lower East Rift Zone, aufgenommen von Radarsat-2

Dieses RADARSAT-2-Produkt identifiziert am 28. Mai 2018 eine Linie von Rissen (rote Punkte) und kartiert Lavaströme von den Leilani Estates und Lanipuna Gardens in Richtung Meer.

Zusätzlich zu den SAR-Bildern wurden mehrere optische Plattformen, darunter WorldView-3, Sentinel-2, Landsat-8, UK-DMC-2, Gaofen-2, Pleiades und LISS-III, in erster Linie für die Kartierung der Schäden eingesetzt, aber einige der Sensoren haben auch spektakuläre Lavaströme aufgenommen, wie der unten abgebildete von einer Sentinel-2-Aufnahme am 23. Mai, fast 20 Tage nach Beginn des Ereignisses.

Auf diesem Sentinel-2-Bild, das am 23. Mai aufgenommen wurde, ist die Linie aktiver Spalten deutlich zu erkennen. Vulkan Kilauea und die Lower East Rift Zone, aufgenommen von Sentinel-2

Auf diesem Sentinel-2-Bild, das am 23. Mai 2018 aufgenommen wurde, ist die Linie aktiver Spalten deutlich zu erkennen. Sie verläuft diagonal vom Gebiet der Leilani Estates an der geothermischen Anlage vorbei, und es sind ausgedehnte Lavaströme zu sehen, die sich von den Spalten zum Ozean unten rechts bewegen.

Quellen: disastercharter.org

Zusätzlich zu den SAR-Bildern wurden mehrere optische Plattformen, darunter WorldView-3, Sentinel-2, Landsat-8, UK-DMC-2, Gaofen-2, Pleiades und LISS-III, in erster Linie für die Schadensbeurteilung eingesetzt, aber einige der Sensoren fingen auch spektakuläre Lavaströme ein, wie der oben abgebildete von einer Sentinel-2-Aufnahme am 23. Mai, fast 20 Tage nach Beginn des Ereignisses.

Dies sind nur einige der zahlreichen Kartenprodukte mit hohem Nutzenert, die für dieses Ereignis entwickelt wurden. Insgesamt wurden mehr als 60 verschiedene Karten erstellt, um die Arbeit von Notfallmanagementbehörden zu unterstützen. Eine dieser Behörden, das National Civil Applications Center (NCAC), fand die Kartendaten von unschätzbarem Wert für die Überwachung des Ereignisses. Gary Fisher, leitender Analyst beim NCAC, sagte: "Während des Ausbruchs haben wir mehrere Datensätze verwendet, um dieses Ereignis täglich (manchmal zweimal täglich) zu überwachen und zu kartieren. Die Menge an Fernerkundungsdaten, die während dieses Ereignisses gesammelt wurde, ermöglichte es uns, das Vorrücken der Lava jeden Tag zu erfassen und genau zu kartieren, wo sie am aktivsten war und sich über die Landschaft ausbreitete."

Die Entwicklung der Charta

Die Charta, mit der ausführlichen englischen Bezeichnung "Charter On Cooperation To Achieve The Coordinated Use Of Space Facilities In The Event Of Natural Or Technological Disasters", ist offiziell am 1. November 2000 mit den Gründungsmitgliedern ESA und CNES in Kraft getreten. Seither wurde die Charta über 600 Mal in insgesamt 125 Ländern in Anspruch genommen (2019). Im Jahr 2019 hat die Charta 17 Mitglieder, dies sind vor allem nationale Raumfahrtagenturen, dazu kommen als Charta-Partner auch private Firmen wie Airbus Defence & Space, MAXAR oder Planet und internationale Organisationen. Die beteiligten Raumfahrtagenturen haben sich mit ihrer Mitgliedschaft dazu bereit erklärt, ihre Satellitendaten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Sie verfolgen damit das Ziel und die Verantwortung, die Hochtechnologie im Weltraum im Sinne der Menschlichkeit über politische Grenzen hinweg nutzbar zu machen.

Deutsche Beteiligung

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) ist seit 2010 Mitglied der Charta. Der Beitrag des DLR ist die schnelle Bereitstellung von Daten der deutschen Radarsatelliten TerraSAR-X und TanDEM-X und der optischen Satellitenmission RapidEye sowie die Übernahme der verschiedenen Aufgaben und Rollen in der Charta. Die Radarsatelliten können zügig detaillierte Bilder aufnehmen, unabhängig von Wolken oder Tageslicht. Da in den Radaraufnahmen glatte Wasser- und raue Landflächen sehr gut voneinander zu unterscheiden sind, eignen sie sich besonders für die Kartierung großer Überflutungsbereiche. Die optischen Daten der RapidEye-Satelliten kamen beispielsweise bei dem Großbrand in der sibirischen Region Krasnojarsk im Mai 2017 oder nach dem Kumamoto-Erdbeben in Japan 2016 zum Einsatz.

Eine sinnvolle Anwendung optischer Satellitenbilder setzt allerdings voraus, dass das in den Blick zunehmende Gebiet nicht unter einer Wolkendecke liegt. Bei jeder Aktivierung der Charter stellt sich die Aufgabe, aus den Daten der Satelliten Produkte herzustellen, die für die Planungsbehörden und Katastrophenhelfer vor Ort von Nutzen sind. Denn die Satellitendaten müssen zunächst analysiert werden. Im Idealfall sind die nationalen Behörden des betroffenen Landes selbst dazu in der Lage. Die Kombination verfügbarer digitaler Karten des Katastrophengebiets mit den neu aufgenommenen Satellitenbildern ist von größtem Wert für die Planung der Hilfseinsätze. Alternativ bieten sich auch Gegenüberstellungen von Satellitenbildern vor und nach der Katastrophe an, die das Ausmaß der Veränderungen zeigen.

Zu den eingesetzten Satelliten gehören unter anderem RapidEye, RADARSAT-2, SPOT, Pléiades, IRS, SAC-C, NOAA-Satelliten, Landsat, ALOS-2, Proba, Formosat, GOES, Kompsat, Meteosat, TerraSAR-X, TanDEM-X, RESURS-DK1.

Weitere Informationen:


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