16. Juni 2004
Die Erde hat keineswegs die Gestalt
einer idealen Kugel, in der sie auf Globen, Landkarten und Bildern aus dem
Weltraum erscheint. Schon Isaac Newton wies vor mehr als 300 Jahren darauf
hin, daß unser rotierender Heimatplanet wegen der Fliehkraft nicht kugelförmig
sein könne, sondern am Äquator aufgewölbt und an den Polen abgeplattet sein
müsse, also die Gestalt eines Ellipsoiden habe. Tatsächlich ist der Äquatorradius
um etwa 21 Kilometer größer als der Erdhalbmesser an den Polen. Aber selbst
das ist nur eine Näherung. Die Erde weist darüber hinaus Beulen und Dellen
auf, die auf der ungleichmäßigen Verteilung von Gesteinen in ihrer Kruste
und in ihrem Mantel beruhen. So ist die Schwerkraft über Granit oder einer
Lagerstätte aus Eisenerz größer als über Sandsteinen oder einem der vielen
Salzstöcke in der Erdkruste Norddeutschlands oder im Golf von Mexiko. Aufgrund
der Messungen des deutsch-amerikanischen Satellitenpaares GRACE
haben die Geowissenschaftler nun mit bisher unerreichter Genauigkeit ein neues
Modell der Erdform berechnet.
Verformende Fliehkraft
Die Form der Erde ist eine Funktion der Schwerkraft. Wäre alles Gestein im
Erdinneren kugelsymmetrisch verteilt und gäbe es auch an der Erdoberfläche
keine topographischen Variationen, wäre die Schwerkraft an jedem Ort der Erde
gleich und hätte den in Lehrbüchern genannten Wert von 9,81 Meter pro Quadratsekunde.
Aber allein aufgrund der durch die Erdrotation verursachten Fliehkraft variiert
die Schwerebeschleunigung vom Äquator zu den Polen um etwa ein halbes Prozent.
Obwohl dieser Unterschied in der Schwerebeschleunigung gering ist, wirkt er
sich auf die Form der Erde aus. Weil die Anziehungskraft am Äquator geringer
ist, kann sich das Gestein dort mehr ausdehnen als an den Polen, die rotierende
Erde ist in dieser Näherung also ein Ellipsoid. Die Geowissenschaftler definieren
ein solches Ellipsoid als Bezugskörper unter der Bedingung, daß die Schwerkraft
an jedem Punkt auf der Oberfläche senkrecht nach unten weist.
Noch geringer, aber durchaus noch meßbar sind die Variationen der Schwerkraft
aufgrund der Unregelmäßigkeiten im Innern der Erde und an ihrer Oberfläche.
Je höher man beispielsweise auf einen Berg steigt, desto geringer wird die
Erdanziehung. Auf dem Gipfel des Mount Everest, dem höchsten Punkt der Erdoberfläche,
ist man beispielsweise um etwa 0,3 Prozent leichter als am Ufer des 9,2 Kilometer
tiefer gelegenen Toten Meeres, dem tiefsten Punkt auf den Kontinenten.
Neben diesen topographischen Schwereänderungen gibt es noch eine weitere Gruppe
von Variationen der Schwerebeschleunigung. Sie beruht auf Dichteunterschieden
im Untergrund. Einerseits kann die Beschaffenheit des Gesteins eine lokale
Abweichung vom Mittelwert der Schwere hervorrufen. Andererseits verursachen
auch dynamische Vorgänge im Erdinneren, die Plattentektonik, Dichte- und damit
Schwerevariationen. So wird das Schwerehoch im Westpazifik auf einen Stau
bei der Subduktion ozeanischer Kruste zurückgeführt. Die abtauchende Platte
stößt im Erdmantel offenbar auf eine Zone erhöhter Viskosität und wird dadurch
am Weitergleiten gehindert. Die negative Anomalie unter der Hudson Bay im
Nordosten Kanadas ist ebenso wie eine kleine Delle unter der Ostsee eine Folge
der Eiszeit. Das enorme Gewicht des Eispanzers hat die Erdkruste eingebeult.
Seit dem Abschmelzen des Eises vor etwa 10.000 Jahren ist die Kruste noch
nicht völlig in ihre Gleichgewichtslage zurückgekehrt. Das macht sich im Schwerefeld
als negative Anomalie bemerkbar. Auch das großräumige Hoch im Nordatlantik
korreliert mit einem Vorgang im Erdinneren: Unter dem mittelatlantische Rücken
quillt zähflüssiges Gesteins aus dem Erdmantel empor.
Wie Christoph Reigber vom Geo-Forschungszentrum (GFZ)
in Potsdam gemeinsam mit amerikanischen Forschern in den "Geophysical Research
Letters" (Bd. 31, L09607) schreibt, sind diese verschiedenen Schwereanomalien
jetzt weltweit mit hoher Genauigkeit neu vermessen worden. Zur Messung nutzten
die Forscher dabei die gemeinsam vom GFZ und dem Jet Propulsion Laboratory
in Pasadena/Kalifornien entwickelten Zwillingssatelliten "Grace". Diese fliegen
in knapp 500 Kilometern Höhe im Formationsflug um die Erde. Jeder der baugleichen
Satelliten hat ein Radargerät an Bord, mit dem der nominell 220 Kilometer
große Abstand zwischen ihnen bis auf zehn Mikrometer genau ermittelt werden
kann. Aus geringen Veränderungen des Abstandes lassen sich auch kleine Schwereanomalien
berechnen. Nähert sich das Satellitenpaar nämlich einer positiven Abweichung,
wird der erste Satellit zunächst stärker beschleunigt als der ihm folgende.
Der Abstand zwischen den beiden Raumflugkörpern wächst also. Hat der erste
Satellit die Anomalie aber überquert, wird er ein wenig gebremst, während
der zweite noch beschleunigt wird, und der Abstand verringert sich. Entfernen
sich beide Satelliten schließlich von der Schwereanomalie, wird der zweite
zunächst noch gebremst, während der erste seine Fahrt schon wieder beschleunigt.
Der Abstand nimmt also zu. Aus den Abstandsänderungen haben die Forscher nun
die Schwereänderungen besser als je zuvor ermittelt. Außerdem haben sie daraus
die Abweichungen vom Erdellipsoid berechnet. Als Ergebnis erhielten sie das
sogenannte Geoid, das die wahre Figur der
Erde wiedergibt.
Beulen und Dellen
Die Abweichungen vom Erdellipsoid können bis zu achtzig Meter tiefe Dellen
sein, aber auch Beulen, die mehr als hundert Meter über die Ellipsoidfläche
herausragen. Unter dem Nordatlantik gibt es eine große Beule, während das
arabische Meer tiefer liegt. Um die im Vergleich zum Erdradius außerordentlich
geringen Höhenvariationen des Geoids überhaupt sichtbar machen zu können,
sind sie hier einige zehntausendmal überhöht dargestellt worden. Das Geoid
wurde außerdem auf eine Kugel und nicht, wie es richtig wäre, auf die Ellipsoidform
projiziert, denn selbst der Unterschied in den Ellipsoidhalbachsen von 21
Kilometern zwischen Äquator und den Polen ist mehr als tausendmal so groß
wie die nun gemessenen Höhenvariationen.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
16.06.2004, Nr. 137 / Seite N1
Quelle: http://www.ifp.uni-stuttgart.de/lehre/Studiengang/Presse/faz137.htm